Moin Nordtribüne,
mit dem Verlauf der Covid-19-Pandemie wurden gesamtgesellschaftliche Probleme zunehmend sichtbar. Nicht nur in Bereichen wie der Medizin oder der Bildung, sondern auch im Bereich des „Profisports Fußball“ zeigte sich, dass dort dringend Handlungsbedarf besteht. Während sich deutschlandweit große Teile der aktiven Fanszenen mit Ausbruch von Covid-19 solidarisch engagierten, indem z.B. Botengänge oder Einkaufshilfen angeboten wurden, handelten Vereine und Verbände weiterhin nur nach ihren finanziellen Eigeninteressen. Dabei sind es doch gerade die Profi-Fußballvereine, die durch ihre große Strahl- und Identifikationskraft eine besondere gesellschaftliche Verantwortung gegenüber ihren Mitgliedern und ihrer Region tragen.
Doch was meinen wir überhaupt mit dem Begriff der gesellschaftlichen Verantwortung? Gesellschaftliche Verantwortung heißt für uns, dass der HSV sich einerseits sozial, ökologisch und ökonomisch für unterschiedliche Projekte in und um Hamburg einsetzt. Andererseits muss es die Vision des Vereins sein, die Zugänge zum Fußball so zu gestalten, dass alle interessierten Menschen die Möglichkeit haben, ein Teil der HSV-Familie zu sein und sich im Kosmos des HSV wohl zu fühlen. Denn Fußball ist für alle da! Dabei ist egal wie man aussieht, wo man herkommt, wen man liebt und woran man glaubt. So muss ein „Vielfaltsmanagement“ im Verein als essentieller Bestandteil gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme verstanden werden.
2016 hat der HSV ein eigenes Leitbild entwickelt[1]. Gesellschaftliche Verantwortung wird in diesem erwähnt, jedoch nicht weiter konkretisiert. Die Formulierung, dass sich der Verein „klar gegen jede Form von Diskriminierung, Gewalt und Extremismus“ ausspricht, reicht nicht aus. Es müssen Ausschlussmechanismen bei Formen von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus o.ä. konkret benannt und daraus ganzheitliche Konzepte für einen vielfältigen Fußball abgeleitet werden. So wurde auf Initiative des Netzwerk Erinnerungsarbeit (Netz E) sowohl in der Stadionordnung als auch in der Satzung (angeregt von Peter Gottschalk) ein Antidiskriminierungs-Paragraph eingeführt. Als weiterer wichtiger Schritt kann die Eröffnung des Ankerplatzes durch die Fanbetreuung in der Saison 2019/2020 betrachtet werden. Fortan bietet dieser eine Anlaufstelle für Betroffene von Gewalt und Diskriminierung[2]. Ein guter Anfang, der aber noch weiter mit Inhalt gefüllt und in ein ganzheitliches Konzept eingebunden werden muss. Nicht nur innerhalb der Fanszene, sondern auch innerhalb des Vereins muss ein Umdenken stattfinden. So vergibt der HSV e.V. dieses Jahr zum ersten Mal den Ehrenamtspreis und lässt aktuell online über drei verschiedene weiße männliche Kandidaten für den Preis abstimmen[3]. Wohlgemerkt: das Problem ist natürlich nicht das herausragende Engagement der drei Nominierten, das jeden Dank und jede Aufmerksamkeit verdient, oder gar deren Geschlecht und Hautfarbe. Die Nominierungen erfolgen jedoch – soweit nachvollziehbar – nicht nach objektiven Kriterien und gerade eine solche Vorgehensweise ist dafür anfällig, Menschen zu übersehen. Es ist jedenfalls schwer zu glauben, dass unter den rund 500 Ehrenamtlichen z.B. keine ebenso engagierte Frau gewesen sein soll. Zudem wird weiterhin rosafarbiges Merchandise für Frauen im HSV-Fanshop vertrieben und auch die entscheidenden Positionen in der HSV Fußball AG sind fast ausschließlich von Männern besetzt. Aktuell belegen mit Marleen Groß (Leiterin Marke & Marketing) und Marieke Pyta (Referentin des Vorstandes und CSR-Beauftragte) nur zwei Frauen eine leitende Position in der HSV Fußball AG. Der HSV sollte Maßnahmen in Betracht ziehen, Führungspositionen diverser zu besetzen, wie beispielsweise von unserer ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Katja Kraus[4] oder vom Netzwerk F_in – Frauen im Fußball gefordert[5]. Nicht nur, um die Realität der Hamburger Gesellschaft abzubilden, sondern auch als eine Maßnahme für eine erfolgreichere Zukunft. So belegen Studien, dass diverse Teams erfolgreicher arbeiten[6]. Gerade beim HSV hat uns die Vergangenheit des Aufsichtsrats gelehrt, dass die immer gleichen Charaktere (mögen sie auch immer wieder andere Namen tragen), die vornehmlich durch ihre Seilschaften und Ränkespiele sowie die Produktion ihrer selbst und ihrer Egoismen auffallen, zu keiner kritischen Begleitung des Vorstandshandelns führen. An dieser Stelle Personen mit diversen Hintergründen und verschiedenen Blickwinkeln auf das zu beaufsichtigende Handeln einzusetzen, könnte einen Teil zu der gewünschten und satzungsgemäßen konstruktiven Begleitung des Vorstandhandels beitragen.
Auch das Nachwuchsleitungszentrum (NLZ) spielt eine Rolle bei der Frage, inwiefern Profivereine wie der HSV ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen. Wir begrüßen, dass der HSV mit vielen Vereinen kooperiert (SV Eichede, Buchholzer FC, MTV Treubund Lüneburg, JFV Buxtehude, Leezener SC/SV Todesfelde, SV NA Hamburg, Käpa Helsinki und Pogon Stettin) und neben fünf hauptamtlich pädagogischen Mitarbeitenden auch einen Integrationsbeauftragten im Team hat. Das NLZ führt bei den Spielern Workshops zu den Themen durch, die durch die Lizenzierungsauflagen vorgegeben sind: Anti-Doping, Prävention von Spiel- und Wettmanipulation, Anti-Rassismus und Kinderschutz. Die Workshops zum Kinderschutzkonzept bzw. der Prävention sexualisierter Gewalt werden auch von den Übungsleitenden absolviert. Bei dem Thema kooperiert der HSV mit der Fachberatungsstelle Zündfunke e.V.[7] Außerdem vermittelt der HSV den Spielern und zugehörigen Eltern, dass eine weitere Ausbildung neben dem Fußball wichtig ist, da die Chancen sehr klein sind, Profi zu werden. Auch soll ihnen vermittelt werden, dass es sich erst empfiehlt einen Berater zu beschäftigen, wenn die Möglichkeit des Eintritts in den Profibereich tatsächlich existent ist. Nichtsdestotrotz geht es auch im NLZ des HSV am Ende mehr um finanzielle Interessen als darum, gesellschaftlicher Verantwortung nachzukommen. So werden die männlichen Jugendlichen fallen gelassen, die es nicht schaffen und Frauen werden im NLZ erst gar nicht betreut, da ihre Ausbildung – Stand jetzt – als nicht gewinnbringend eingeschätzt wird.
Damit gesellschaftliche Verantwortung nicht nur Symbolpolitik bleibt, muss sie also auch ganzheitlich in allen Bereichen (vor-)gelebt werden. Ein weiteres Beispiel ist Homophobie: Das Flaggen von Regenbogenfahnen und eine dazugehörige Stellungnahme anlässlich der Pride Week 2020 begrüßen wir.[8] Damit diese Aktion auch wirkt, muss sie in ein ganzheitliches Konzept eingebunden werden, welches eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema voraussetzt – beispielsweise durch das Einbeziehen von Menschen, die von Homophobie betroffen sind, durch vereinsinterne Schulungen, Veranstaltungen zum Umgang mit LBGTIQ-Feindlichkeit und der Aufarbeitung von homophoben Geschehnissen in der Vergangenheit. Dass der HSV sich klar gegen jede Form von Diskriminierung und damit auch Homophobie stellt, ist Teil seines Leitbildes.
Nicht nur vom Verein selbst, sondern auch von möglichen Geldgebern erwarten wir, dass diese mit dem Leitbild des HSV vertraut sind und sich mit diesem auch identifizieren können. Wenn es um das Thema Investoren beim HSV geht, fällt als allererstes der Name von Klaus-Michael Kühne. Seit Beginn seines Anteilserwerbs an der HSV Fußball AG wird dieser von weiten Teilen der Hamburger Fanlandschaft kritisiert. Den wirtschaftlichen Part wollen wir jedoch in diesem Text ausklammern, da er bereits im vorherigen Text umfassend diskutiert wurde. Wir möchten einen Blick auf das Verhalten Kühnes und die seines Unternehmens in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus werfen. Sein Logistikunternehmen „Kühne + Nagel“ war in der Zeit des Nationalsozialismus verantwortlich für den Abtransport von Möbeln, die Jüdinnen und Juden aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg nach ihrer Deportation in die Konzentrationslager geraubt wurden. Außerdem drängten Alfred, der Vater von Klaus-Michael, und Werner Kühne den jüdischen Mitinhaber Adolf Maass 1933 aus dem Unternehmen. Die Nationalsozialisten deportierten Maass später und ermordeten ihn im KZ Auschwitz.[9] Für diese Aktionen ist Klaus-Michael Kühne nicht verantwortlich, sehr wohl aber für den heutigen Umgang seines Unternehmens mit dieser Thematik. Jahrzehntelang verschwieg „Kühne + Nagel“ seine Rolle im Nationalsozialismus. Infolge des öffentlichen Drucks gibt Kühne seit einigen Jahren die Mitarbeit im NS-Staat zu, relativiert die Rolle des Unternehmens jedoch bis heute und stellt sich einer umfassenden Aufarbeitung entgegen[10]. Kühnes Weigerung, sich mit der Aufarbeitung der Rolle seines Unternehmens im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, passt nicht zu dem Leitbild und der Satzung, die der HSV vertritt und somit nicht zu den Werten, für die wir als Verein und als Fanszene einstehen.
Der HSV hat in der Vergangenheit allerdings gezeigt, dass er zumindest bemüht ist, der gesellschaftlichen Verantwortung eines Fußballvereins mit nationalsozialistischer Vergangenheit nachzukommen. Hervorzuheben ist hier die Sonderausstellung „Die Raute unterm Hakenkreuz – Der HSV im Nationalsozialismus“, die 2007 im HSV-Museum gezeigt wurde oder die Einweihung einer Gedenktafel für die HSV-Opfer des Nationalsozialismus Anfang des Jahres[11]. Will der HSV diesen Bemühungen weiter nachgehen, dann darf die Mitarbeit von „Kühne + Nagel“ an nationalsozialistischen Verbrechen (was übrigens schon vor der Ausgliederung öffentlich diskutiert wurde) nicht weiter verdrängt und schweigend hingenommen werden.
Gesellschaftliche Verantwortung darf beim HSV nicht nur heißen, in Form des Hamburger Wegs einzelne soziale Projekte finanziell zu unterstützen. Es müssen auch Lieferketten von Firmen und sonstiges Engagement von Sponsoren mit in sein Handeln einbezogen werden. Gesellschaftliche Verantwortung heißt, Aufarbeitung der eigenen Geschichte und damit auch ein Vereinsarchiv, das öffentlich zugänglich und digitalisiert ist und nicht mehr länger sein Dasein im Keller des Stadions fristet. Es braucht eine Stelle für Vielfalt in Form einer Person, die Anti-Diskriminierungsarbeit im Verein bündelt und in dem Thema sensibilisiert und ansprechbar ist. Die Inklusionsbeauftragte Fanny Boyn und das zunehmende Engagement in diese Richtung von der Abteilung Fankultur sind zu begrüßen, aber bisher nicht ausreichend.
Gesellschaftliche Verantwortung – gerade in Zeiten von Covid-19 – heißt für uns vor allem auch, Fans zuzuhören und ihre Interessen einzubinden. Ein Fußball ohne seine Fans ist nicht der Fußball, den wir lieben. Erst durch seine Fans erlangt der Fußball diese hohe gesellschaftliche, soziale, wirtschaftliche und auch politische Bedeutung, die er heute innehat. Fans sollten weder von den Vereinen noch von den Verbänden als Sicherheits- oder Marketingaspekt des Fußballs betrachtet werden, sondern als elementarer Bestandteil dessen. Das anzunehmen und zu leben ist auch ein Teil gesellschaftlicher Verantwortung, die ein Verein wie der HSV trägt. Natürlich ist nicht nur der Verein, sondern sind auch wir als Fanszene mit dafür verantwortlich, uns für einen vielfältigen und offenen Fußball einzusetzen und Menschen, die betroffen sind von Diskriminierung oder aus anderen Gründen Hilfe benötigen, zu unterstützen.
Für eine solidarische Nordtribüne! Für den HSV!
Förderkreis Nordtribüne e.V. im Dezember 2020
[1] www.heluecht.stupid-and-slow.de/Downloads/HSV-Leitbild.pdf
[2] www.hsv.de/news/ankerplatz-als-anlauf-und-schutzstelle-fuer-fans
[3] www.hsv-ev.de/ehrenamtspreis-2020
[4] Hamburger Abendblatt, 17./18.10.2020, S. 38.
[5] www.f-in.org/presse/quotenfrau-ja-bitte/
[6] www.mckinsey.com/de/news/presse/neue-studie-belegt-zusammenhang-zwischen-diversitat-und-geschaftserfolg
[7] www.hsv.de/nachwuchs/nlz/kinderschutzkonzept
[8] www.hsv.de/news/nein-zu-diskriminierung-hsv-zeigt-flagge
[9] www.stolpersteine-hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=1492
[10] www.deutschlandfunk.de/ns-geschichte-von-kuehne-nagel-unaufgearbeitete.691.de.html?dram:article_id=483856
[11] xn--nordtribne-hamburg-t6b.de/2020/01/nichts-und-niemand-ist-vergessen/