Im Folgenden möchten wir Euch einen Artikel aus dem Möwenschiss-Spieltagsheft vom vergangenen Sonntag zur Verfügung stellen.
„Unsere Stadionsprecherin, Christina Rann, wird die WM in Katar bei einem großen und bekannten Internet- und TV-Anbieter kommentieren. „Wie viele andere Moderatorinnen und Moderatoren wurden wohl vorher schon gefragt und haben schon völlig zu Recht abgesagt? Entweder, weil sie das Turnier aus eigener Überzeugung ablehnen oder einfach aus Angst vor dem Vorwurf, an dieser WM mitzuverdienen?“ werden zynische Stimmen nun fragen.
„Er hat doch nur diese eine Karriere…“ ist ein Argument, mit dem bei Profispielern entschuldigt werden soll, dass diese in ihrer Karriere ja immer nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung hätten, um an einer WM teilzunehmen, und daher alles mitnehmen müssten. Egal ob das nun in Nordkorea oder Katar stattfindet – Pierre-Michel Lasogga lässt grüßen. Ob dieses „Muss-Alles-Mitnehmen“ nun Spieler von jeder Verantwortung freispricht, sei mal dahingestellt. Auf jeden Fall gilt dieses Argument nicht für eine Stadionsprecherin, die einen vermutlich unbefristeten Vertrag beim HSV hat und nicht mit Mitte 30 aus Leistungsgründen oder wegen Verletzungen aussortiert wird und sich was Neues suchen muss. Eine Stadionsprecherin, die seit 2012, also schon 10 Jahre lang bei SpiegelTV, kicker und Sky vor der Kamera stand und keineswegs mehr Berufsanfängerin ist, die sich irgendwo beweisen müsste. In ihrer bisherigen Karriere hat sie nach eigenen Angaben schon jede Menge erlebt: „Ich habe gedreht auf Achterbahnen, Trainingsplätzen und Speedbooten, ich habe unzählige Sendungen bei Wind und Wetter moderiert, ob im Stadion in der 1. oder 2. Bundesliga, im Ausland, im Studio, in der Handball-Halle oder sogar in der Kneipe“ und sagte, der Job beim HSV fühlte sich an, wie „Nach-Hause-Kommen“.
Liebe Christina, wenn du beim HSV Zuhause angekommen bist, warum fährst du dann nach Katar, um diese WM zu kommentieren? Wenn du schon so viel erlebt hast, was hoffst du in Katar zu erleben, was du noch nicht gesehen hast? Durchtriebene Oligarchen, eitle Persönlichkeiten und undurchsichtige Strukturen gibt’s doch auch beim HSV…
Im Volkspark ist sie nun seit 2020 Stadionsprecherin, gemeinsam mit Christian Stübinger und sagte letztes Jahr darüber in einem Podcast: „Wer das nicht als Traumjob bezeichnet, der hat sein Herz nicht an den Fußball verloren (….) Im Stadion zu stehen, den Rasen zu riechen, so dicht dran zu sein, in die Gesichter der Spieler schauen zu können – das ist einfach ein wunderbarer Job.“
Liebe Christina, wenn das beim HSV wirklich so ein Traumjob ist und wenn du dein Herz wirklich an den Fußball verloren hast, warum machst du dich dann zum Teil dieses blutigen, verschwenderischen und gierigen Turniers? Wenn du wirklich so dicht dran bist, warum merkst du dann nicht, wie weit weg diese WM von all dem ist, was uns Fans wichtig ist?
In einem anderen Podcast sagte unsere Stadionsprecherin über den Sportjournalismus, dass er sich anfühlt wie „ein Hürdenlauf über Brezeln und Bier, weil es bei Karriereentscheidungen nicht ausschließlich um Fachkompetenz geht, sondern manchmal auch ganz profan um das Geschlecht“.
Liebe Christina, in Katar müssen Frauen sich die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen, wenn sie heiraten wollen und selbst, wenn sie in einem öffentlichen Job arbeiten wollen. Natürlich gibt es auch Bestrebungen nach Gleichberechtigung und ein minimaler Fortschritt ist auch erkennbar. Böse Zungen behaupten aber, dass der katarische Frauenfußball 2009 nur aufgebaut wurde, um rechtzeitig alle Auflagen für die Bewerbung für die WM 2022 zu erfüllen. Mit der Karriereentscheidung, diese WM zu kommentieren, verhilfst du nicht nur der WM zu Reichweite, sondern legitimierst gewissermaßen auch die gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort.
Klar, die Kritik von fehlender Gleichberechtigung trifft in Teilen auch auf unsere Gesellschaft, Hamburg und somit auch den HSV zu. Ebenso klar, dass deine Art auch angenehmer ist als die von Effenberg, Pocher und all den anderen Idioten. Trotzdem – oder gerade deswegen – ist so unbegreiflich, warum du unbedingt Katar als Karrieresprungbrett nutzen möchtest. Wenn du dort im Glauben hinfährst, etwas an den Verhältnissen verändern zu können: Kritischen Journalismus wirst du während der 90 Minuten oder in der Vorberichterstattung wohl kaum platzieren können, kann also auch kein Grund für dich sein. Im Übrigen wurde die Kritik an Katar auch schon durch andere Redaktionen in anderen Formaten zigfach herausgearbeitet und ausgezeichnet.
Ökologischen Aspekte und die vielen anderen guten Gründe gegen Katar werden aus Platzgründen gar nicht erst groß ausgebreitet, weil es einfach unmöglich wäre, das alles sinnvoll in einem einzelnen Text einzusortieren. Achso, und es ist dabei auch komplett egal, ob du vor Ort bist, oder in einem deutschen Studio sitzt. Ein viel größeres Signal wäre, den Job abzulehnen. Dann kannst du dich abermals in einen Podcast setzen, um dort die Gründe deiner Absage darlegen und erklären, warum du nicht an diesem Turnier mitwirken wolltest. Dafür ist es übrigens immer noch nicht zu spät. Überlass diese weltfremde WM den Weltfremden, lass den Job sausen und besinn dich auf deine eigenen Worte und Werte.
Oder bleib beim Bullshit-Bingo der Fußballprofis, aber dann mach dir Folgendes klar: Das finden wir Fans falsch, und: Auch an deinem Kommentatoren-Mikro und an jedem einzelnen Euro, den du für diese WM bekommst, klebt das Blut von über 15.000 Toten.“